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01 MHaenggi Vasensaal Egizio 07022025

ZWISCHEN GESELLSCHAFTS-, INSTITUTIONS- UND SELBSTKRITIK

ZWISCHEN GESELLSCHAFTS-, INSTITUTIONS- UND SELBSTKRITIK

Museo Egizio, Turin

Ein Text von Michelle Haenggi | 18.05.2025

Das Zeitalter des Staunens fühlte sich plötzlich wieder sehr nahe an, als ich mich in das Museo Egizio in Turin begab, ähnlich einem Besuch des British Museum in London. Zwar ganz oben auf meiner Liste von Ausstellungen, die ich erleben wollte, erwartete ich dennoch bereits den emotionalen Zwiespalt, welcher damit einhergehen sollte. 

Durch Materialfülle und geschickt eingesetzter Szenografie versetzen die Räumlichkeiten initial in einen Zustand des Staunens und der Faszination. Besonders der den Amphoren gewidmete Vitrinensaal, welcher durch zwei enge Passagen zu betreten ist, entfaltet eine imponierende und zugleich erschlagende Wirkung. Nach dem schmalen Gang, welcher bereits einige Gefässe beherbergt, fühlt sich der grosse Raum beinahe überdimensioniert an. Die in allen Richtungen gestapelten Vasen wirken als Einheit, ohne dem Individuum Raum zu bieten. Als ich von Schaukasten zu Schaukasten schlenderte, um mich den einzelnen Stücken zu widmen, musste ich schnell feststellen, dass es eben jene Füllmenge war, in der ich mich visuell verlor und welche mich meines Fokus’ beraubte. Obwohl die Szenografie erst an eine Bibliothek erinnert, konnte ich kaum einen anderen Mehrwert in der beschriebenen Ausstellungsform entdecken und verlor das Interesse an den Objekten. Ich fand mich schnell in einer stillen Überforderung wieder. 
Während meines Aufenthalts erfuhr ich dieses Gefühl mit unterschiedlichsten Objektgruppen und Sälen. Obwohl es als transparenter und exemplarischer Versuch der Einsicht in den Gesamtbestand / das Depot gedeutet werden kann, stellte ich umso mehr fest, wie das Museum über Warendruck agiert und sich dadurch selbst zu legitimieren versucht. Der Geschmack, der zurückblieb, war eher ein erschreckender und meine initiale Faszination endete in der Frage: Ist das alles nötig?

Obwohl im Museo Egizio grösstenteils bekannt ist, wie die Exponate ihren Weg nach Turin gefunden haben, liess mich die enorme Menge an ähnlichen, fast identischen Objekten umso mehr hinterfragen, wie moralisch rechtmässig diese hier waren. Ein kritischer Umgang mit der eigenen Vergangenheit konnte ich während meines Besuchs nicht auffinden, eher erkannte ich entlang der Saaltexte eine Verherrlichung der italienischen Ausgrabungsarbeiten und damit einhergehend einen Stolz für die darin resultierenden Besitztümer. Die eigene Gegenüberstellung von Privileg und Unrecht wurde für mich, wie erwartet, durch den Ausstellungsbesuch unausweichlich. Ich fand mich zwischen meiner institutionskritischen Haltung und meinem eigenen Opportunismus wieder. Dadurch erkannte ich nicht nur den persönlichen, sondern gesamtgesellschaftlichen Widerspruch. Das Sonderrecht zur Zugänglichkeit interkulturellen Erbes mag, aus Zentraleuropäischer Perspektive, selbstverständlich sein, stützt sich jedoch stets auf Zusammenhängen der Ausbeutung und Unterdrückung und ist keinesfalls ein Umstand der Gegenseitigkeit oder Gleichberechtigung. 

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