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Titelbild 01

Der Eintritt in die Verwahrlosung

Der Eintritt in die Verwahrlosung

«I see you» – Die Utopie für Kunstschaffende

Ein Text von Leonie Peste

In Berlin spriessen nichtkommerzielle Orte, die ihren ursprünglichen Nutzen verloren haben. Aus irgendeinem Grund lande ich bei meinen Besuchen immer wieder auf alten Industriegeländen, wo man mich neapolitanische Pizza essen sieht. Der Teufelsberg in Berlin Grunewald gehört auch zu diesen verwahrlosten Orten. Dort befindet sich die alte Abhörstation.  Im Kalten Krieg diente sie den Alliierten zur Überwachung des Funkverkehrs im Ostblock. Heute ist der Ort geprägt vom Zerfall, von halbfertigen Gebäuden und ungesichertem Schrott. Übergrosse Murale beleben die herunterkommenden Wände und ziehen somit trotzdem die BesucherInnen an. Der Ausblick über Berlin macht das Erlebnis komplett.

Da ich schon öfters von diesem Ort gehört hatte, wollte ich ihn mir diesmal nicht entgehen lassen. Ein langer Weg mit leichter Steigung führte mich direkt zum Eingang des Geländes. «5 Euro, bitte». Ich blickte erschrocken nach rechts und direkt in die ungeduldigen Augen eines Mannes, der unter einem Holzdach stand. Das kam unerwartet. Ich erinnerte mich an die Sätze meines Bruders. Als er vor 12 Jahren in meinem Alter war, kletterte er dort über den Zaun, um seine Freunde auf der Techno-Party im Keller zu treffen. Heute sieht das ganz anders aus. Mittlerweile hatte sich eine kleine Schlange hinter mir gebildet. Ein Pärchen mit Kind im Arm und zwei Rentner, die die Steigung mit ihren Gehstöcken bewältigt haben, warteten auf ihren Eintritt. Mit meinem ermässigtem Studenteneinlass und 5 Euro weniger, lief ich weiter. Nichts leitete mir den Weg, weswegen ich mich immer wieder umschaute. Die meisten Gebäude sind frei zugänglich und ich folgte ein paar Menschen, die in der Dunkelheit verschwanden. Ein langer dunkler Gang liess mich dem Licht in der Ferne immer näherkommen. Links und rechts sah es nach Überbleibsel von einer wilden Nacht aus. Ganz zufällig landete ich vor einem Raum, der eine Überschrift bekommen hatte. «I see you» leuchtete mich in neon-pink an. Ohne Erwartungen schritt ich ein. Erst danach kam ich zu der Erkenntnis, dass es sich um eine Kunstausstellung handeln muss, denn die Wände waren bedeckt von Bildern unterschiedlichster Art und auch Skulpturen und Fotografien waren ausgestellt. Der Raum war in buntem Discolicht getunkt, welches von einer drehenden Kugel unter einem Glaskubus kam. Kleine, goldene Weihnachtskugeln verzierten die Decke. Ich betrachtete die Kunstwerke, aber die Zusammenhänge waren mir noch unklar. Mir gefielen die Werke sehr, jedoch waren mir weder Namen noch Titel bekannt. Eine Frau in Leoparden Mantel und Westernstiefeln suchte immer wieder den Blickkontakt zu den BetrachterInnen. Sie wusste wohl mehr über diese Ausstellung und aus diesem Grund sprach ich sie an. Ein offenherziges «Hi» kam von ihr zurück. Es stellte sich heraus, dass sie Kuratorin und auch Künstlerin von dieser Ausstellung ist und Anna heisst. Sie sprach von ihrem Herzensprojekt «I see you», bei dem es sich um eine non-profit Ausstellung handelt, welche von mehreren Berliner KünstlerInnen selbstfinanziert und gestaltet wurde. Spannend ist, dass Anna mehrere Jahre ihre Kunst in einer Galerie ausgestellt hatte, bis sie sich von diesem Kunstmarkt trennte. Es war mir nicht bewusst, dass viele Galerien grossen Druck auf die Kunstschaffenden ausüben. Zu einem bestimmten Zeitpunkt muss eine bestimmte Leistung gezeigt werden. Die Leidenschaft zur Malerei, wie sie sie damals hatte, ging Anna verloren. Sie fragte sich: «Was wäre, wenn es möglich wäre, ausserhalb des Kunstmarkts, die individuelle Genialität eines jeden (un)bekannten Künstlers der interessierten Welt zeigen zu können?». Mit dieser Ausstellung möchte sie ihre Liebe zur Kunst zeigen. Ich fragte mich: Ist diese Ausstellung eine Utopie? Die Geschichte und ihren Mut sich als Künstlerin unabhängig zu machen, beeindruckte mich. Dass sie den Teufelsberg als Location aussuchte, erschien mir wegen dem Erlebten unpassend, aber nach einigen Recherchen trotzdem logisch. Es ist ein umstrittener Ort, der von vielen KünstlerInnen am Leben erhalten wird. Die Forderungen einer Rückübertragung an das Land Berlin sind allgegenwärtig, aber unattraktiv und unrentabel. Das asbestverseuchte Gebäude zerfällt immer mehr, wenn nicht bald investiert wird. Die 5 Euro sind deshalb legitim. Es ist nicht mehr nur ein verwahrloster Ort, dort nehmen sich Kunstschaffende jetzt ihren Platz, unabhängig vom Kunstmarkt.

26.04.2022

Abhörstation (eigene Aufnahme)
Discolicht (eigene Aufnahme)

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