ÜBERLAGERTE GESCHICHTEN
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ZUR AUSSTELUNG BARZAKH VON LYDIA OURAHMANE
KUNSTHALLE BASEL 2. März 2021 – 16. Mai 2021
Ein Text von Sarah Berger
Und plötzlich stehst du mitten in einem Wohnzimmer, das nicht dein eigenes ist. Doch Lydia Ourahmane integriert die Besucher:innen nicht nur räumlich in ihr Leben. Die verwobene Vernetzung von Geschichten rund um ihre Person, von denen niemand genau weiss, was davon echt und was erfunden ist, ziehen einen tief in die Mystik, die sie umgibt. Geschichten, denen man auf den Stufen der Treppe sitzend gelauscht hat und die sich nun unausweichlich als Stimmung im freien Raum zwischen den Objekten ausbreitet und alles auflädt, was sich im Ausstellungsraum befindet.
Die Wohnung, die Gegenstände, ein Gemisch aus ihren und den Besitztümern der verstorbenen Vormieterin.¹ Die Geschichten zweier Leben, überlagert eingeschrieben in hunderten von Objekten, von Algerien nach Basel gebracht, um in der Kunsthalle wiederaufgebaut und ausgestellt zu werden. Hier, wo sie Menschen so tief Einblick haben lassen in ein fremdes Leben, werden Fotoalben durchgeblättert, es wird sich auf die Bettkante gesetzt und in den Kühlschrank geschaut. Es fühlt sich an wie ein Zuhause, aber eben nicht das eigene, mitten in einer Vielzahl persönlichster Gegenstände und doch ist eben alles fremd. Ist es überhaupt noch ein Zuhause, wenn das Private derart öffentlich gemacht wird?² Wenn wir eintreten in den persönlichsten Raum einer Fremden? Wenn andere Menschen sich zwischen den Dingen bewegen, sie erkunden und sich so noch mehr fremde Geschichten in die Gegenstände einschreiben? Wenn alles aus seinem eigentlichen Kontext gerissen und in einen total anderen gesetzt worden ist? Wenn die «Wohnung» von Laserstrahlen durchkreuzt und jeder Ton von Überwachungsgeräten eingefangen und abgehört wird und so das gelegentlich unterbrochene Surren des unsichtbaren Lasers allgegenwärtig ist in einem Raum, der eigentlich Geborgenheit vermitteln soll? Denn genauso, wie wir einblicken in eine Privatsphäre, so werden auch wir permanent überwacht.³ Wo ist die Grenze zwischen Öffentlich und Privat?
Das arabische Wort Barzakh bezeichnet im islamischen Glauben eine Barriere oder Trennwand.4 Welche Grenzen sind angesprochen in diesem Raum ohne Wände? Sind es die, die sie selbst erlebt, als alleinstehende Frau in Algerien? Eine andere Übersetzung beschreibt einen Zustand der Schwebe, ein Warten.5 Darauf, dass Fremde die Ordnung in eine andere verwandeln, als vorgesehen.6 Darauf, dass die Geschichten weitergehen. Und darauf, dass du mitten in einem Wohnzimmer stehst, das nicht dein eigenes ist.
Innenarchitektur & Szenografie, HGK Basel, den 27.04.2021
1 vgl. https://www.kunsthallebasel.ch/wp-content/uploads/DE_Conversation_LydiaOurahmane_ElenaFilipovic_MAR2021.pdf
2 vgl. https://www.kunsthallebasel.ch/wp-content/uploads/Ausstellungstext-Lydia-Ourahmane-Kunsthalle-Basel.pdf
3 vgl. https://www.kunsthallebasel.ch/wp-content/uploads/Ausstellungstext-Lydia-Ourahmane-Kunsthalle-Basel.pdf
4 vgl. https://www.kunsthallebasel.ch/wp-content/uploads/Ausstellungstext-Lydia-Ourahmane-Kunsthalle-Basel.pdf
5 vgl. https://www.kunsthallebasel.ch/wp-content/uploads/DE_Conversation_LydiaOurahmane_ElenaFilipovic_MAR2021.pdf
6 vgl. https://www.kunsthallebasel.ch/wp-content/uploads/Ausstellungstext-Lydia-Ourahmane-Kunsthalle-Basel.pdf
Abbildungen: https://www.kunsthallebasel.ch/presse/